1. Einleitung
      Jede/r hat so seine Erfahrungen gemacht mit dem Glauben. Viele haben ihn hinter sich gelassen, viele sind geblieben und zufrieden, nicht wenige sind auf der Suche, ob da nicht mehr ist als Glaubenssätze, Dogmen, Moral.

      Da ist mehr! – war es immer. Es kann, darf, soll wieder entdeckt und ins Leben gerufen werden – ich will es an Beispielen zu erklären versuchen. Vorher noch eine kleine Erklärung, was das Wort Mystik bedeutet: "myein" = griechisch und heißt "blind sein", mit geschlossenen Augen sehen – wer Augen hat zu sehen, der sehe (Neues Testament). Eine Unter-Strömung in allen Religionen der Welt – im Christentum auch!
       

      2. Jesus
      Er hätte sich über das Etikett "Mystiker" sicher gewundert. Ihm waren alle Titel suspekt. Aber worauf es ihm ankam, das kann man sehr schön aus Schriften im neuen Testament sehen.

      Worauf kam es ihm an – mit meinen Worten: Er wollte, dass jede/r ganz Mensch ist, dass er weiß - ich bin eingebettet, aufgehoben, zu Hause. Das kann ich mir nicht einreden, das kommt nicht von außen, sondern von innen, von der Mitte – das betrifft mich ganz.

      Und so beginnt der Evangelist Markus sein "Leben Jesu" indem er von der Taufe berichtet. Jesus tauchte unter und als er herauf steigt hört er den Satz: Du bist mein Sohn, der geliebte. An dir habe ich Gefallen! Wenn ich diesen Satz als eine Zusage von ganz innen – ganz oben, ganz tief in mir gehört habe – dann kann mir eigentlich nichts mehr passieren. Ganz gleich was passiert. Alles ist gut.

      Aus diesem Vertrauen zu leben – das ist es! Hier könnte ich schon aufhören und sagen: Lasst diesen Satz in Euch erklingen – dann seid ihr angekommen. Aber so einfach ist es wohl doch nicht. Das können wir sehr schön sehen daran, wie es mit Jesus bei Markus weiter geht – Er wird vom Geist in die Wüste getrieben – fastet und betet 40 Tage, muss Versuchungen durchstehen – was gelingt, weil er mit den Tieren war und die Engel ihm dienten. Was für ein Bild!?

      Eine zulässige Interpretation lautet: Er war sich all seiner triebhaften, animalischen, kreativen und aggressiven Kräfte bewusst und begrüßte sie, denn er wusste sich zugleich im Licht – geliebt und gehalten von den Kräften der Klarheit und der Liebe! (Engel eben!).

      Zwischenergebnis: Für Jesus geht es nicht darum an irgendetwas zu glauben, irgendeinem System zu folgen, sondern darum: Aus einem klaren Wissen einer tiefen Erfahrung heraus zu tun, was seins ist. Die Zeit anzusagen. Sie ist erfüllt! Jetzt ist Königtum Gottes! Kehrt um – ändert euer Leben.

      Er tat ja dann auch, was er kann: Heilen, Neues Leben ermöglichen, Wege aufzeigen. "Selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen" (Mt 5,8) sagt er in der Bergpredigt und spricht den Hintergrund an, aus dem – all die Kraft kommt:
      Ein Herz, das rein, sprich frei ist von egozentrischen, selbstsüchtigen ängstlichen Bewegungen - frei geworden ist, darf man auch sagen - eröffnet die Möglichkeit Gott zu sehen – das Unsichtbare im Sichtbaren – und jede/r ist dazu geladen, dazu grundsätzlich befähigt, der sich auf den Weg macht, indem er umkehrt, sich abkehrt von Trug und Illusion, von vordergründigem Erfolg, der Hoffnung, es könne durch Äußerliches Ruhe und Frieden einkehren.

      Nein: Nur aus der Einheit kommt Klarheit. Das wurde von Jesus personifiziert und der Johannesevangelist versucht es in Bilder und Worte zu fassen und legt Jesus Sätze in den Mund wie:
      Ich und der Vater sind eins
      Ich bin Brot des Lebens, Weg, Wahrheit

      Es geht nicht darum, dass der Christus etwas ist, sondern dass er einen Weg in die Gegenwart Gottes eröffnet. Das ist ein zentraler Punkt in der Mystik (in jeder Religion – so auch im Christentum): Immer wieder gibt es Menschen mit einer besonderen Erfahrung, einer besonderen Sicht auf die "ganze Wirklichkeit". Diese ist ihnen - oft auf langem schmerzhaften Weg - manchmal ganz plötzlich ganz deutlich - "zuteil geworden". Sie sind Teil geworden – der Christusgegenwart – des Anbruchs des Reiches Gottes – der wahren ganzen Wirklichkeit.

      Und so ergriffen - erfüllt - verändert versuchen sie andere Menschen zu ermuntern, sich selbst auf den Weg zu machen. Sich zu öffnen, zu spüren, zu lauschen, zu hören, zu sehen. Hinter, in, unter aller Vielfalt, allen Erscheinungen, allen Bildern gibt es diese eine, unnennbare unbeschreibbare und doch ganz wirkliche Wirklichkeit, die wir Gott zu nennen pflegen. Dabei geht es nicht darum, daran zu glauben, sie für möglich zu halten sie festzuschreiben, sondern sich selbst – jedermann/jedefrau – auf den Weg zu machen.

      Diese Haltung unterscheidet sich deutlich von dem, was die Gemeinden und die Kirche von früh an von den Menschen erwartet haben. Sie sollten treu festhalten an der Überlieferung, sich verlassen und vertrauen auf das was sie von den Müttern und Vätern gehört haben.

      So entstanden schnell Lehrgebäude, Traditionsschulen, unterschiedliche Gruppen. Die Einladung, sich selbst auf den Weg zu machen, geriet an den Rand. Mainstream war und ist: Schließ dich an, sei wie wir, bilde dir nicht ein, du könntest einen eigenen Weg gehen.

      So geriet die mystische, erfahrungsgeleitete individuelle Haltung in Spannung zur verbreiteten eher dogmatisch ethisch orientierten "Normal"-Haltung.
       

      3. Wüstenväter/Wüstenmütter
      Sie sind zwar in der Minderheit – aber es gibt sie immer wieder, weil Menschen zu allen Zeiten sich nicht begnügen wollten, nicht begnügen konnten mit dem Nachsprechen und sich einrichten.

      Sie wollten selbst erfahren, wissen was dahinter steckt. Diese Haltung wurde in der Alten Kirche "Gnosis" (Wissen) genannt und bald erbittert bekämpft. Aber in der selben Alten Kirche gab es aber dann auch die Wüstenväter und Wüstenmütter, die sich buchstäblich aus den Städten zurückzogen und in der Wüste ein zurückgezogenes einfaches oft kärgliches Leben führten.

      Einer von ihnen war Evagrius Ponticus in der ägyptischen Wüste († 399). Ihm geht es – ganz kurz gesagt: um die Reinigung der Seele von allen Leidenschaften und die Befreiung des Geistes von allen Vorstellungen – denn nur dadurch ist es dem Menschen möglich, in den göttlichen Urgrund zurückzukehren von dem er sich aus Sorglosigkeit entfernt hat. Wie das gehen könnte, darauf werde ich noch einmal gegen Ende zurückkommen, wenn der Weg der Kontemplation als Übungsweg beschrieben wird.

      Wichtig ist: Evagrius kennt das eine Ziel, die Einswerdung mit Gott. Das ist ein langer, oft steiniger Weg. Aber jede/r, der sich entschließt, kann ihn gehen und wird ans Ziel kommen. Viele Frauen und Männer haben in den ersten Jahrhunderten solche und ähnliche Ansichten vertreten. Zu Ehren sind sie nicht gekommen – aber versiegt ist der Strom der Mystik nie.
       

      4. Meister Eckard / Tauler
      Im Mittelalter bilden sich besonders in Spanien und in den Niederlanden mystische Gemeinschaften – oft Frauengemeinschaften, "Beginen" genannt, z.B. Hadewijch von Antwerpen oder Margarete Porete. Bedeutend über ihre Zeit hinaus sind Theresa von Avila, Johannes vom Kreuz, Hildegard von Bingen und andere gewesen – sie haben alle in Spannung mit der Kirche gelebt, So wie auch Meister Eckart und sein Schüler Johannes Tauler, die ich in anderem Zusammenhang kurz zu Wort kommen lassen will.

      Zur Erinnerung:
      Auf dem mystischen Weg geht es vor allem darum, all die schönen und auch schrecklichen Bilder und Vorstellungen von sich und der Welt hinter sich zu lassen und sich geduldig und unermüdlich spürend, lauschend, ahnend zu bereiten für die Öffnung hin zum "Einen" zur ganzen Wirklichkeit. Dazu gehört notwendiger Weise die Bereitschaft, sich neben dem Selbstbild auch von jedem Gottesbild zu verabschieden.

      Diese Erkenntnis – von Frauen und Männern der Mystik immer wieder erneuert – führt auch immer wieder hinein in Spannungen und Auseinandersetzungen mit Vertretern der etablierten Religion. Das bekam auch Meister Eckart am Ende seines Lebens deutlich zu spüren als eine ganze Sammlung seiner Sätze gotteslästerlich gefunden und er gezwungen wurde, sie zu widerrufen.

      Und selbst heute – nach Jahrhunderten wirken manche dieser Sätze ungeheuerlich und sprengen jeden religiösen, geschweige denn konfessionellen Rahmen:

      "Gott ist allezeit bereit
      wir aber sind sehr unbereit
      Gott ist uns nahe
      wir aber sind ihm sehr fern
      Gott ist innen
      wir aber sind draußen
      Gott ist in uns daheim,
      wir aber sind in der Fremde"

      "Mein leiblicher Vater ist nicht eigentlich mein Vater, sondern nur mit einem kleinem Stückchen seiner Natur. Und ich bin getrennt von ihm. Er kann tot sein und ich lebe. Darum ist der himmlische Vater in Wahrheit mein Vater, denn ich bin sein Sohn und habe alles das von ihm, was ich habe. Darum wirkt er mich als eingeborenen Sohn ohne jeden Unterschied"

      "Darum bitten wir Gott, dass wir Gottes ledig werden und dass wir empfangen die Wahrheit"

      und so weiter.

      Immer wieder geht es Eckart um das Einssein, Einssein, das notwendig auch die "Weiselosigkeit Gottes" einschließt und damit all die in Jahrhunderten angesammelten und liebevoll gepflegten Bilder von Gott als dem Schöpfer, dem Allmächtigen, dem Liebenden, dem Zürnenden, dem großen Du ... hinter sich lässt. Eckart geht so weit zu sagen – die Gottheit jenseits aller Gottesbilder ist "arm, bloß und leer, ein über allem Sein seiendes Nichtsein."

      Was will er damit erreichen?
      Gott der menschlichen Verfügbarkeit entziehen. Dass das nicht einfach ist – abgesehen davon, dass es über weite Strecken den Raum der Tradition verlässt, das hat sein wichtigster Schüler Johannes Tauler formuliert. Er hat sich viel mit der Frage beschäftigt, wie Menschen zu dieser Erkenntnis und Sichtweise gelangen können. Ihm ist dabei – wie Eckart wichtig, auf die Rolle des menschlichen kleinen Ichs hinzuweisen und immer wieder zu betonen: Mit Wissen, Wollen, Haben wirst du es nicht erreichen.

      So formuliert Tauler:
      Wenn der Mensch in der Übung der inneren Einkehr steht, hat das menschliche Ich für sich selbst nichts. Das Ich hätte gerne etwas und es wüsste gerne etwas und es wollte gerne etwas. Bis dieses dreifache "Etwas" in ihm stirbt, kommt es den Menschen gar sauer an. Das geht nicht an einem Tag und auch nicht in kurzer Zeit. Man muss dabei aushalten, dann wird es zuletzt leicht und lustvoll.

      Die Kräfte des Intellekts, des Willens und des Wissens sind nicht der Weg zu der Erfahrung und der Kenntnis um die es dem "Mystiker" immer gegangen ist.
      Ich lasse noch kurz zwei Vertreter der nachreformatorischen Zeit zu Wort kommen, um mich dann einem Beispiel aus der Gegenwart und mit ihm mit der Frage was ist Kontemplation zu beschäftigen.

      Erstes Beispiel:
      Angelus Silesius
      – der schlesische Bote hat im 17. Jhd gelebt und Verse hinterlassen, die bis heute klingen und künden von dem, worum es auf dem inneren Weg geht:

      Halt an – wo läufst du hin?
      Der Himmel ist in dir
      Suchst du Gott anderswo
      Du fehlst ihn für und für.

      Oder:
      Die Ros’ ist ohn’ Warum
      Sie blühet, weil sie blüht.
      Sie acht nicht ihrer selbst,
      fragt nicht ob man sie sieht

      Und als drittes und letztes:
      Gott ist so über alles,
      dass man’s nicht sprechen kann
      drum betet man ihn auch
      mit Schweigen besser an.

      Noch einen zweiten Vertreter dieser Zeit, den Dichter Gerhard Tersteegen und sein Gedicht-Kirchenlied: Gott ist gegenwärtig. Daraus den 5. und den 7. Vers:

      Luft, die alles füllet
      Drin wir immer schweben
      Aller Dinge Grund und Leben
      Meer ohn Grund und Ende
      Wunder aller Wunder
      Ich senk mich in dich hinunter.
      Ich in dir, du in mir
      Lass mich ganz verschwinden
      Dich nur sehn und finden.

      Mache mich einfältig
      Innig abgeschieden
      Sanft und still in deinem Frieden
      Mach mich reinen Herzens
      Dass ich deine Klarheit
      Schauen mag in Geist und Wahrheit
      Lass mein Herz – überwärts –
      Wie ein Adler schweben
      Und in dir nur leben.


      5. Gegenwart: Willigis Jäger, Weg der Kontemplation

      Und wie so oft in schwierigen Zeiten, in denen sich vieles wandelt, Grundlegendes nicht mehr tragfähig erscheint, gibt es auch heute Menschen, die den Erfahrungs-mystischen Weg gegangen sind und gehen und andere Menschen ermuntern, sich auch auf diesen Weg zu machen. Zu ihnen gehört mein Lehrer Willigis Jäger.

      Er hat meinen Weg 1991 gekreuzt und mein inneres Leben hat sich seither stark verändert. An Aussagen von ihm möchte ich zum Schluss versuchen zu zeigen, wie der innere mystische Weg heute beschrieben werden kann und wie man/frau ihn gehen könnte. Ich zitiere weitgehend aus dem Spirituellen Jahresbegleiter 2009. Wichtig ist ihm – und uns, zu erfahren, wer wir wirklich sind in unserem tiefsten Wesen und so sagt er:
      "Die Mystik des Ostens und des Westens lehrt uns, dass es unsere erste und wichtigste Aufgabe ist, zu erkennen, wer wir wirklich sind".

      Ein erster möglicher Hinweis:
      "Wir halten uns für den Strand, der nach dem Meer lechzt. Dabei sind wir das Meer, das mit dem Strand spielt“.

      oder
      "Mystik zielt auf den einzelnen Menschen: Achtsames Tun, Klärung des eigenen Geistes, "Entgiftung" des eigenen Herzens sind ihr Ziel. Wir erkennen, dass nur Mitgefühl, Toleranz, Liebe und Großherzigkeit uns weiterhelfen".

      und als drittes:
      "Es geht letztlich immer nur um eines: Mensch zu sein – der Mensch zu sein, der ich bin. Nur in unserem Menschsein treten wir mit der "ersten Wirklichkeit“ in Kontakt, die wir "Gott" nennen können. Im Gras manifestiert sich diese als Gras, in der Blume als Blume, im Baum als Baum. In uns aber manifestiert sie sich als Mensch".

      Aber wie können wir das erkennen – ja wirklich selbst erfahren? Auf demWeg der Betrachtung, der Kontemplation, dem Sitzen in der Stille.

      Dazu wieder Willigis:
      "Nur schauen, nur hören ohne werten und urteilen. Nur da sein, spüren und lauschen – einsehen, dass wir nichts machen können und dass die Dinge sich ereignen, wenn wir ruhig werden und sie geschehen lassen. Das kann man üben – dieses stille Sitzen, diese Bereitschaft loszulassen".

      Das ist ganz einfach, aber sicher nicht immer leicht. Alle, die schon unterwegs sind, wissen das aus eigener, oft schmerzlicher Erfahrung. Aber es bleibt eben doch auch Wahrheit, was Willigis sagt. Im Zen heißt es: "Stirb auf deinem Kissen". In dem Maße, in dem unser kleines Ich stirbt – dieses ängstliche, verzweifelte, aggressive und viel zu selten heitere Konglomerat aus psychischen Abläufen – in dem selben Maß entfalten sich Vertrauen, Zuversicht, Liebe und Glück.

      Ich habe versucht, etwas zu tun, was im Grunde nicht funktionieren kann. Ich habe zu Ihnen von etwas gesprochen, das unaussprechlich ist. Ich hoffe dennoch, es ist eine Ahnung in Ihnen entstanden, eine Sehnsucht vielleicht, sich auf den inneren Weg zu machen. In der Hoffnung und im Vertrauen darauf, dass das Gehen dieses Weges zu einer Veränderung unseres Bewusstseins führt und einer Weltsicht, die über den engen Kreis des Ich hinausgeht. Wir erkennen Alles ist eins.

      In diesem Sinne: Danke fürs Zuhören und gute Reise